Stuttgart-Tatort "Überlebe wenigstens bis morgen" seziert die Einsamkeit der Großstadt heute (23.11.2025) in der ARD

© SWR/Benoît Linder
Die ARD wagt heute (23.11.2025) um 20:15 Uhr mit dem neuen Stuttgart-Tatort "Überlebe wenigstens bis morgen" einen außergewöhnlich sozialkritischen Blick. Anstatt dem klassischen Whodunit-Muster zu folgen, stellen die Ermittler Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare) eine zutiefst beunruhigende Frage: Wie kann eine junge Frau monatelang unentdeckt in ihrer Wohnung liegen, ohne dass sie jemand vermisst? Der Episodentitel selbst ist eine melancholische Anspielung auf einen Song des Liedermachers Gerhard Gundermann und verleiht dem Film von Regisseurin Milena Aboyan eine besondere, nachdenkliche Tiefe. Ab Ausstrahlung wird der Stuttgart-Tatort "Überlebe wenigstens bis morgen" auch über die ARD Mediathek verfügbar sein.
Die forensische Kälte der Realität
Die Kommissare Lannert und Bootz werden zu einem schockierenden Fund gerufen. Der Leichnam der jungen Nelly Schlüter (Bayan Layla) wird entdeckt, nachdem sie fast ein halbes Jahr lang unbemerkt in ihrer Wohnung lag. Ein erschreckend realistisches Szenario, das in modernen Großstädten traurige Wahrheit ist. Die forensische Bestimmung der Todeszeit ist dabei nichts für schwache Nerven. Rechtsmediziner Dr. Daniel Vogt (Jürgen Hartmann) muss die sogenannte "Liegezeit" anhand von Fliegen und Maden feststellen - ein Detail, das die Brutalität der tatsächlichen forensischen Praxis ungeschönt abbildet. Dieses wissenschaftlich fundierte Detail verdeutlicht, wie lange Nellys Schicksal ignoriert wurde.
Isolation als zerstörerische Kraft
Der Kern des neuen Stuttgart-Tatorts ist nicht der Mord an sich, sondern die alles zerfressende Einsamkeit. Während Isolation in der Gesellschaft meist mit älteren Menschen verbunden wird, zeigt dieser Film die beklemmende Vereinsamung junger Menschen in urbanen Zentren. Regisseurin Milena Aboyan liefert mit ihrem Regie-Debüt ein mutiges, harten Filmerlebnis, das Einsamkeit als zerstörerische Kraft inszeniert. Durch ein ungewöhnliches filmisches Stilmittel macht sie Nellys innere Verzweiflung sichtbar: In ihrer Wohnung sieht und hört Nelly ihre "virtuellen" Freunde, doch diese ignorieren sie, ein visueller Ausdruck ihrer tiefen inneren Not.
Die Kommissare suchen nach Antworten und stoßen auf eine Mauer der Gleichgültigkeit. Die unterkühlten Aussagen der Nachbarin Elvira Möbius (Daniela Holtz) spiegeln die gesellschaftliche Kälte wider. Keinerlei Interesse an der neuen Mitbewohnerin, keine Anteilnahme - ein Spiegelbild der Anonymität, in der Nelly Schlüter verschwand.
Unerwünschte Nähe und ungelebte Beziehungen
Bei ihren Ermittlungen stellen Lannert und Bootz fest, dass fast jeder in Nellys Umfeld eine Erklärung dafür hat, warum sie nicht vermisst wurde. Weder Eltern, Bruder Henning Schlüter (Robert Kuchenbuch) noch ihre ehemals beste Freundin Fine Slowinski (Trixi Strobel) waren an enger Nähe interessiert. Fine scheint sogar erleichtert, dass Nelly nicht mehr in ihrem Leben mit Ehemann Niclas (Louis Nitsche) vorkam. Alle schildern Nelly als munter und aufgeschlossen, doch niemand wollte die Intensität, die sie suchte.
Besonders in den Aussagen der Männer, die Nelly über Online-Dating traf, kristallisiert sich die Tragik heraus: Sie sei zu anhänglich gewesen, hätte sofort intensivere Beziehungen gewollt. Genau dieses Bedürfnis nach echter Verbundenheit schreckte die Menschen in ihrem Leben ab. Lannert und Bootz sezieren nicht nur den Kriminalfall, die Frage nach Mord oder Suizid, sondern vor allem die Frage: War Nelly Schlüter wirklich so einsam, wie es den Anschein hat, und welche Person hat sie in ihr Leben gelassen, die ihr besser ferngeblieben wäre?
Stärke und Schwäche eines mutigen Ansatzes
Die Kritik ist sich einig: Der Stuttgart-Tatort "Überlebe wenigstens bis morgen" wagt viel und genau darin liegt seine polarisierende Stärke. Die Inszenierung ist atmosphärisch dicht, die kühle Bildsprache erzeugt eine beklemmende Authentizität, die lange nachhallt. Mutig rückt der Film das soziale Drama ins Zentrum, nutzt die Ermittlungsarbeit bewusst als Vehikel, um die Isolation als moderne, zerstörerische Kraft auszuleuchten. Das macht die Folge zwar bewegend, gesellschaftlich relevant und stellenweise verstörend, aber auch sperrig für Zuschauer, die einen klassischen, temporeichen Krimi erwarten. Es ist ein intensives Stück Fernsehkunst, das mehr über die Kälte moderner Großstädte erzählt als über Täter und Motiv - ein bemerkenswerter Ansatz, der garantiert Gesprächsstoff liefert.








